Rosa von Tannenburg: eine fast vergessene Heldin der Kindheit

Johanna Wurm, Kuratorin der aktuellen Ausstellung in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, über den Kinderbuchklassiker des einst in Augsburg wirkenden Autoren Christof von Schmid. ► Die Ausstellung ist nur noch bis Freitag, 21. Juli, sehen – am selben Tag um 16 Uhr letztmalig Gelegenheit zur Führung mit Kuratorin Johanna Wurm!

Fragt man heute nach deutschen Kinderbuchklassikern des 19. Jahrhunderts, denken Viele an den Struwwelpeter oder Max und Moritz. Kaum einer erinnert sich noch an ein Ritterfräulein namens Rosa von Tannenburg, mit dem Generationen von Kindern aufwuchsen. Sie überzeugte weder durch anarchischen Humor, noch durch Strafen und Drohungen, sondern sie wollte ein Vorbild im Guten sein. Ihre Geschichte verfasste Christoph von Schmid (* 1768 in Dinkelsbühl – † 1854 in Augsburg) dessen Weihnachtslied Ihr Kinderlein kommet heute noch in aller Munde ist.

»Aeltern und Kinder« – ihnen ist die Erzählung gewidmet – verfolgten mit Spannung die Abenteuer der vierzehnjährigen Rosa: Zunächst führt sie als einzige Tochter des edlen Ritters von Tannenburg ein wohlbehütetes Leben. Doch dann stirbt ihre Mutter, die Burg wird überfallen, und der Vater von dem finsteren Ritter Kunerich verschleppt. Als Dienstmädchen getarnt, reist Rosa ihm nach, versorgt ihn im Kerker mit dem Nötigsten und lernt das Leben auf der Burg von ganz unten kennen. Gegen Kunerich hegt sie verständlicherweise eine Abneigung, doch lehrt ihr Vater sie, auch ihre Feinde zu lieben.

Dies wird zu ihrer aller Rettung: Eines Tages fällt nämlich Kunerichs kleiner Sohn in den Burgbrunnen. Gerade noch bleibt er im Schacht an einem Nagel hängen. Rosa fasst sich ein Herz, lässt sich abseilen und rettet ihn. So kommt ihre Identität ans Licht, doch Kunerich erweist sich als gar nicht so fürchterlich. Er sieht seine Fehler ein und lässt Rosas Vater frei. Rosa, die er zu Beginn noch arrogant ignoriert hat, begegnet er fortan auf Augenhöhe.

Starke Frauenfigur: »… daß auch ein Mädchen mutig sein kann«

Rosa von Tannenburg hat vieles mit der Märchenfigur Aschenputtel gemein: Einerseits entspricht sie dem Frauenbild des frühen 19. Jahrhunderts. Glaube, Tugend und Fleiß sind das Geheimnis ihres Erfolges. Selbst auf der Burg des Feindes bewältigt sie die Arbeit einer Dienstmagd ohne zu murren. Doch gleichzeitig war sie auch als starke Frauenfigur bekannt – sogar beim männlichen Publikum. Noch im Jahr 1968 hieß es in einem Zeitungsartikel:

»Auch ein nüchterner Geschäftsmann schämte sich nicht, einzugestehen, wie sehr das Schicksal der armen Rosa ihm einmal zu Herzen gegangen war. Er habe damals zum erstenmal begriffen, gestand er, daß auch ein Mädchen mutig sein kann und daß es noch andere Waffen gibt, um einen Feind zu besiegen.« 1

Dies war nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die Nationalsozialisten sie aus den Schulbüchereien verbannt hatten, und die Nachkriegsverlage sie wieder populär zu machen versuchten. Das Comeback war nicht von Dauer. Doch noch in den 1920er Jahren, als der nüchterne Geschäftsmann jung gewesen sein mag, war Rosa von Tannenburg in Kinderzimmern und auf Schulbühnen ein Evergreen. Ihr wurden sogar Musikstücke und Blumenzüchtungen gewidmet.

Außerdem prägte die Erzählung jahrzehntelang das Bild der Kinder vom Mittelalter. Ida Bindschedler beschreibt 1919 in ihrem Roman Die Leuenhofer einen Schulausflug auf eine Burg:

»Die Mädchen aber hatten ein Loch entdeckt, das sich prächtig dazu eignete, die Geschichte der Rosa von Tannenburg aufzuführen. Sie brauchten aber einen Ritter, und Eva Imbach holte kurzerhand ihren Bruder Martin herüber.« 2

Auf solche und ähnliche Weise wurde die Erzählung mancherorts zu Lokalsage und man fühlte sich als Originalschauplatz. In Raderach am Bodensee kann man heute noch den Brunnen besichtigen, aus dem Rosa das Kind gerettet haben soll. 3 Von der Tannenburg bei Ellwangen ganz zu schweigen.

Aktuelle Ausstellung in der Staats- und Stadtbibliothek

Die Staats- und Stadtbibliothek lädt dazu ein, in der aktuellen Foyerausstellung (4. bis 21. Juli 2023) die Geschichte der Rosa von Tannenburg zu erkunden – gemeinsam mit ihrer literarischen Zwillingsschwester, der Erzählung Das Blumenkörbchen. Gezeigt werden seltene Erst- und Prachtausgaben, dreiste Raubdrucke, die ihren Besitzern dennoch viel bedeuteten, und verschiedene Übersetzungen. Illustrator:innen ließen sich von Grimms Märchen ebenso inspirieren wie vom Nibelungenlied. Der Fürther Verlag Löwensohn verlegte Rosa von Tannenburg gleich selbst in allen europäischen Sprachen. Sie stand dort als Klassiker in einer Reihe mit Robinson Crusoe und In 80 Tagen um die Welt.

Mag es auch in den letzten Jahrzehnten still geworden sein um die Ritterstochter – ihr runder Geburtstag ist ein schöner Anlass, diese friedfertige Heldin des 19. Jahrhunderts neu zu entdecken.
~ Ein Gastbeitrag von Johanna Wurm, M.A.

1 ► Schmitz, Anna Maria: Die Karriere der Rosa von Tannenburg. Stuttgarter Zeitung Nr. 183, 10. August 1968. S. 93.
2 ► Bindschedler, Ida: Die Leuenhofer. o.O. Tredition Classics, 2011 (1919). S. 84f.
3 ► https://de.wikipedia.org/wiki/Burgstelle_Neu_Raderach (abgerufen am 20. 06. 2023)


🎓 ✍️ • Die Autorin: JOHANNA WURM, M.A.

– Kuratorin der Ausstellung 200 Jahre »Rosa von Tannenburg« und »Das Blumenkörbchen« in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg • 4. bis 21. Juli 2023 –

Johanna Wurm, M.A., Jahrgang 1990, studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Augsburg und Regensburg. Von 2019 bis 2022 war sie an dem Projekt Pax&Pecunia zur Erforschung ehemaliger Augsburger Bürgerhäuser beteiligt. Seit 2021 arbeitet sie an einer Dissertation über die Illustrationen zu Christoph von Schmids Erzählungen.

📚 Veröffentlichungen:

• Wurm, Johanna: Kat. Nr. 25-28 (Fresken im Schnurbeinhaus). In: Pax & Pecunia. Kunst, Kommerz und Kaufmannstugend in der Augsburger Deckenmalerei, Ausstellungskatalog Augsburg, Schaezlerpalais 2022, hrsg. von Angelika Dreyer und Andrea Gottdang, Petersberg 2022.

• Wurm, Johanna: [Rezension] Davies, Norman: Verschwundene Reiche. In: Südost-Forschungen, 74/1 (2015), S. 245-247.


Bilder der Collage: © SuStB Augsburg

🖼️ Die Ausstellung 200 Jahre »Rosa von Tannenburg« und »Das Blumenkörbchen« wird vom 4. bis 21. Juli 2023 im Foyer der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg gezeigt. Bildergalerie

🕓 Öffnungszeiten: Montag bis Freitag, 10 Uhr bis 17 Uhr

🚶‍♀️ Führungen durch die Ausstellung mit der Kuratorin Johanna Wurm jeweils am Freitag 7., 14. und 21. Juli 2023, jeweils um 16 Uhr.

😊 Der Eintritt zur Ausstellung und die Teilnahme an den Führungen ist kostenfrei.

Staats- und Stadtbibliothek Augsburg | Schillstraße 94 Google Maps

www.sustb-augsburg.de


Vor Ort erhältlich: die aktuelle Publikation der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg Das prächtige Rathaus der Stadt Augsburg (Deutscher Kunstverlag). Der großformatige Kunstbildband aus der neuen Reihe »Schatzkiste – Pretiosen der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg« zeigt Salomon Kleiners Originalzeichnungen aus den Jahren 1727/28 in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg für die Edition der Kupferstichfolge des Augsburger Rathauses. Mehr Infos | auxlitera-Artikel


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