Die ideologischen Offenbarungseide des Bertolt Brecht

Lenz Prรผttings ideologie-kritische Analyse von Brechts Gesamtwerk sprengt Grenzen der Brecht-Exegese deutlich auf mehreren Seiten hin auf.

Der Philosoph und Theaterwissenschaftler Lenz Prรผtting, in den 90er-Jahren Chefdramaturg an den Stรคdtischen Bรผhnen Augsburg (heutiges Staatstheater Augsburg), legt mit seinem Werk Brechts Metamorphosen im Wandel seiner Glรคubigkeiten. (Kรถnigshausen & Neumann, 2022) eine ideologiekritische Analyse von Brechts Gesamtwerk vor. Der Untertitel Von Jesus รผber Baal zu Stirner, Lenin und Lao-tse steckt das Feld von tatsรคchlich massiven Anregungen und Einflรผssen, die in der bisherigen Brecht-Philologie entweder viel zu kurz gekommen sind, verleugnet wurden oder รผberhaupt nicht als solche erkannt worden sind.

Der in Pfaffenhofen an der Ilm wohnhafte Philosoph und รœbersetzer dramatischer Texte von Shakespeare, Moliรจre und Synge gab auxlitera Einblick in Entstehung, Hintergrund und Rรผckschlรผsse seines รผber 600 Seiten zรคhlenden Werks Brechts Metamorphosen im Wandel seiner Glรคubigkeiten. in dem er zu dem Schluss kommt, Brecht sei zeit seines Lebens im steten Wandel seines Selbstverstรคndnisses und seiner ideologischen Positionen begriffen gewesen, was sich allein schon am mehrfachen Wechsel seines Vornamens zeigt, vor allem aber in seinem Werk.

Patriotismus, Pietismus und ein Herzanfall

Unter dem Einfluss seiner รผberaus frommen pietistischen Mutter und seines nationalprotestantischen BarfรผรŸer-Pfarrers Hans Detzer schrieb der ganz frรผhe Brecht entsprechend ideologisch geprรคgte Gedichte. Nur eine einzige Dissertation, die des Theologen Eberhard Rohse, befasse sich mit diesem ganz frรผhen Brecht in seiner Augsburger Kindheit und Jugend, so Lenz Prรผtting. ยปDiese frรผhen Gedichte in schwarz-weiรŸ-roter patriotischer Ergriffenheit und im Geiste des Langemarck-Mythos‘ hat man bisher aber konsequent aus dem Brecht-Bild ausgeblendet, genau so wie die tiefe pietistische Prรคgung, die Brecht eine genauso tief sitzende Bereitschaft verliehen hat, ein SรผndenbewuรŸtsein zu entwickeln und zu kultivieren, das sich dann auch auf alle anderen Glรคubigkeiten รผbertragen lieรŸ, sodass der christliche Sรผnder sich ganz leicht zum ideologischen Renegaten wandeln konnte, der ein genauso schlechtes Gewissen hat wie der christliche Sรผnder.ยซ Aus diesem Grund sei Prรผtting in seiner Analyse auch so ausfรผhrlich auf die Matthรคus-Passion eingegangen, weil das Erlebnis der Matthรคus-Passion offenbar den jungen Brecht buchstรคblich ยปumgehauenยซ habe, denn er erlitt wรคhrend der Auffรผhrung einen veritablen Herzanfall.

Die brechtige Stirn(er)glatze

Doch dann, so Prรผtting, seien die tiefen Umbrรผche gekommen. Brecht habe sich vom biblisch-christlichen Gott ab โ€“ und dem biblischen Gegen-Gott Baal zugewendet. รœber letzteren habe sich Brecht, so scheine es, eine veritable Religion ausgedacht. ยปUnd dann der noch viel tiefer gehende Umbruch im Zeichen Stirners, dem Brecht nicht nur seine Christlichkeit, sondern auรŸerdem auch noch seine eben erst entwickelte baalische Naturreligion opfern muรŸteยซ, so Prรผtting. Er verweist auf ein bisher unbeachtetes, aber sehr offenbares Detail in Brechts visueller Selbstprรคsentation: Mit Stirner, so Prรผtting, habe Brecht auch eine Portion Haare gelassen โ€“ denn er lieรŸ sich tatsรคchlich eine Stirnglatze rasieren, um die gleiche Denkerstirn wie sein neues Idol Stirner zu haben.

Gelรถschte Stellen in Tagebรผchern und Briefen

Prรผtting zeigt auf, wie massiv der Einfluss Stirners auf die frรผhen Stรผcke Baal und Trommeln in der Nacht war. Brecht habe in immer neuen Ansรคtzen versucht, ยปdiesen Stirner wieder los zu werdenยซ. Fรผr Prรผtting lassen sich die marxistischen Selbstbelehrungsstรผcke um 1930 ยปauch als Exerzitien zur eigenen Entstirnerungยซ lesen. Doch, so Prรผtting, taucht der Name Stirner in Brechts eigenen Werken an keiner Stelle auf. Prรผtting: ยปAlle Stellen in den Tagebรผchern und Briefen, in denen er aufgetaucht sein kรถnnte, sind sorgfรคltig gelรถscht worden, und so ist es auch im Nachlass, wie man mir vom Brecht-Archiv glaubhaft versichert hat. Und in der Brecht-Forschung taucht der Name Stirner natรผrlich auch nirgendwo auf.ยซ

Kreativitรคtsschub nach Lao-tse-Erfahrung

ร„hnlich sei die Situation mit Lao-tse, der erst kรผrzlich durch die kleine Studie von Heinrich Detering in die Debatte geworfen worden ist, aber bis dahin kaum ein Thema fรผr die Brecht-Forschung gewesen ist. ยปDass die marxistisch orientierten Brechtianer vor Lao-tse sofort fremdeln, ist leicht zu verstehen, weil dessen sanftes Wu-Wei-Prinzip eben der direkte Gegensatz zur elften Feuerbach-These ist. Dass aber auch die โ€บbรผrgerlicheโ€น Brecht-Forschung diesen รผberaus wichtigen EinfluรŸ Lao-tses auf den spรคten Brecht nie zu wรผrdigen wuรŸte, ist einfach nicht zu entschuldigen, weil das groรŸe Lao-tse-Gedicht ja zugleich auch eine Theorie der Kreativitรคt in einer gemeinsamen Situation enthรคlt. Und dann darf man ja auch nicht รผbersehen, daรŸ die Orientierung an der Ethik des Lao-tse dem Brecht von 1938ff einen genau so groรŸen Schub an Kreativitรคt gebracht hat wie die Orientierung an Baal und Stirner in seiner frรผhen Augsburger Zeit, und das macht diese Vernachlรคssigung von Lao-tse erst recht unentschuldbar.ยซ

Literarische Gestรคndnisse

Bei so vielen Abbrรผchen, Umbrรผchen und Neuorientierungen, die sich durch Brechts ganzes Werk ziehen: Es kรถnne nicht verwundern, dass es immer wieder auch Situationen in seinem Leben und Werk gegeben hat, die man laut Prรผtting als ยปideologischen Offenbarungseidยซ bezeichnen darf. Also als Situationen, in denen Brecht sich eingestehen habe mรผssen, dass er nicht mehr weiter wuรŸte โ€“ wie es eben Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny heiรŸt: ยปWeil es nichts gibt / woran man sich halten kannยซ. Um darzustellen, zu welchen Gestรคndnissen sich Brecht gezwungen sah, baute Lenz Prรผtting zwei Kapitel in Brechts Metamorphosen im Wandel seiner Glรคubigkeiten ein. ยปIch meine damit zum Beispiel den deutlich artikulierten Orientierungs-Verlust bei den verzweifelten Sรผndernarren von Mahagonny, aber auch das kleine Gedicht โ€บDie Krรผckenโ€น, das in einem ganz anderen Ton das Stirb-und-werde-Thema von Zusammenbruch und Wiederaufrichtung zum Thema hat.ยซ

Brechtfrรถmmigkeit

Bertolt Brecht (1954). Bildnachweis & Bildquelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jรถrg / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5371156.

Ein ganz eigenes Thema der Brecht-Studie ist die fรผr Prรผtting ยปwindige Theorieยซ des Epischen Theaters, die in der Brecht-Literatur zwar eine groรŸe Rolle spielt, dort aber immer so dargestellt werde, dass man sie ยปganz brechtfromm darstellt, also von Brechts eigenen Vorgaben ausgehend diskutiert. Und das hat mich immer schon gewaltig geรคrgert, weshalb ich nun als ausgebuffter Theaterpraktiker, aber auch als studierter Philosoph diese Theorie mal unter anthropologischen, philosophiehistorischen und erkenntnistheoretischen Aspekten untersucht habe.ยซ Dabei kam Prรผtting zu einigen Ergebnissen gekommen, die, wie er betont, in der bisherigen Brecht-Forschung ebenfalls noch nie angesprochen worden sind.

Prรผtting: ยปIch meine damit die verblรผffende Nรคhe des โ€บEpischen Theatersโ€น zu Platons Sicht auf das Theater, dann aber auch die genauso verblรผffende Identitรคt des zu dieser Theatertheorie gehรถrenden โ€บimpliziten Zuschauersโ€น mit dem cartesischen Ich, also der leiblosen, affektlosen, geschichts- und gesichtslosen โ€บres cogitansโ€น, die nichts anders kann als eben zu kogitieren, also zu denken ohne zu empfinden, als ob dies รผberhaupt mรถglich wรคre. Und das soll laut Brecht nicht nur mรถglich sein, sondern das soll sogar das zu erstrebende Ideal seinยซ, so Prรผtting. ยปHier hat sich Brecht unter der Parole โ€บWeh dem, der mitgeht!โ€น offensichtlich in einer vertikalen Sackgasse ideologischer Verstiegenheit verrannt, weil er sich seinen Zusammenbruch wรคhrend der Matthรคus-Passion nie verzeihen konnte.ยซ

Brecht und die DDR

Das letzte Kapitel behandelt Brechts Zeit in der DDR. In ihm will Prรผtting zeigen, ยปwie bei diesem Machtkampf mit den Kulturpolitikern der SED der alte Brecht versucht hat, sich nicht โ€บverwurstenโ€น zu lassen, sondern im Gegenteil wieder die speziellen Mittel und Mรถglichkeiten der DDR fรผr sich zu verwerten, diesen Machtkampf aber doch verloren hat, weil die Fรผlle an Entmutigungen und Zumutungen letztlich doch zu groรŸ fรผr ihn war.ยซ

Neue Heimat Kรถnigshausen & Neumann Verlag

Die neue, nun im Kรถnigshausen & Neumann vorliegende Brecht-Monographie ist eine zweite, erweiterte Fassung. Die von Prรผtting bereits editorisch kritisch betrachtete Verรถffentlichung im Vorgรคngerverlag konnte die ersehnte Neufassung nicht mehr erleben, da der Verlag aufgekauft wurde. Im Wรผrzburger Kรถnigshausen & Neumann Verlag sind bereits zwei Bรผcher von Prรผtting erschienen, nun kommt noch ein viertes hinzu; eine handliche Kurzfassung seines Buchs Homo ridens fรผr jedermann unter dem Titel Spielrรคume des Lachens. Auch alle kรผnftigen Arbeiten von Lenz Prรผtting sollen bei Kรถnigshausen & Neumann erscheinen. [ms | auxlit]

Lenz Prรผtting: Jahrgang 1940, war zunรคchst Bergmann, machte dann Abitur und studierte in Erlangen und Mรผnchen Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft. Nach der Promotion arbeitete er zehn Jahre an der Universitรคt Mรผnchen und danach als Dramaturg an verschiedenen Theatern, darunter in den 1990er Jahren an den Stรคdtischen Bรผhnen Augsburg (heute: Staatstheater Augsburg. Zuletzt bei Kรถnigshausen & Neumann erschienen: Der kreative Impuls. Studien zur Phรคnomenologie der Kreativitรคt (2020) und ยปDas isses!ยซ Studien zur Phรคnomenologie von GewiรŸheits-Erlebnissen (2021).


Lenz Prรผtting: Brechts Metamorphosen im Wandel seiner Glรคubigkeiten. Von Jesus รผber Baal zu Stirner, Lenin und Lao-tse
644 Seiten, Taschenbuch-Bindung
Kรถnigshausen & Neumann, 2022
ISBN: 978-3-8260-7596-4

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