Jedes vierte Kind kann nach der 4. Klasse nicht richtig lesen

Rund 25 Prozent der Viertklässler/-innen in Deutschland verfügt nicht über ausreichende Lesekompetenz. Das zeigen die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2021, die am 16. Mai 2023 in Berlin vorgestellt wurden. Damit kann fast jedes vierte Kind nicht richtig lesen, wenn es auf eine weiterführende Schule geht. In den 20 Jahren der Studie hat sich die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nicht verbessert.

Im Rahmen der alle fünf Jahre durchgeführten international vergleichenden und repräsentativen IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) wurde auch 2021 die Lesekompetenz von etwa 4.600 Schüler*innen aus circa 250 vierten Klassen deutschlandweit erhoben. Weltweit haben sich insgesamt 65 Staaten und Regionen beteiligt. Nun wurden die Ergebnisse in Berlin vorgestellt.

Ergebnis: Der Anteil der Kinder, die nicht über ausreichende Lesekompetenz verfügen, ist gegenüber 2016 deutlich angestiegen; jedes vierte Kind verlässt die Grundschule ohne ausreichende Lesefähigkeiten, erreicht nach internationalem Standard keine ausreichende Lesekompetenz und muss dementsprechend mit großen Schwierigkeiten im weiteren Verlauf der Schul- und Berufszeit rechnen. »In den zwanzig Jahren der Studie hat sich die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland nicht verbessert«, teilt das an der TU Dortmund ansässige Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) in seiner Pressemeldung mit.


ZUR STUDIE:

Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) testet die Lesekompetenz und erfasst die Einstellung zum Lesen und die Lesegewohnheiten von Schüler/-innen in der vierten Klasse im internationalen Vergleich in einem 5-Jahres-Zyklus. In Deutschland, das bereits zum fünften Mal an der repräsentativen Erhebung partizipierte, haben bei IGLU 2021 insgesamt 4.611 Schüler/-innen aus 252 vierten Klassen, ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen teilgenommen.

International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen. Durch die umfangreiche Befragung werden wichtige Hintergrundinformationen gewonnen. Das zugrundeliegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) zu gleichen Anteilen gefördert.

📁 + 📗 Die Ergebnisse der IGLU-Studie 2021 können HIER kostenlose heruntergeladen werden, sind aber auch als Buch (Waxmann Verlag, 37,90 Euro) erhältlich.

🗎 Die ausführlichen Ergebnisse sind verfügbar unter ifs.ep.tu-dortmund.de/iglu2021

🗎 Weiterführende Analysen zu zentralen Themen im Kontext der Grundschulen in Deutschland werden in der Reihe Tuesdays for Education ab dem 13. Juni 2023 monatlich unter ifs.ep.tu-dortmund.de/praxis-videoportal/praxisportal veröffentlicht.


Verbände wie Stiftung Lesen, der Börsenverein des deutschen Buchhandels und der Deutsche Bibliotheksverband zeigen sich alarmiert und reagieren mit Besorgnis, fordern ein sofortiges politisches, aber auch gesellschaftliches Umdenken. Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: »Die Ergebnisse der aktuellen IGLU-Studie sind alarmierend. Sie zeigen ein weiteres Mal, wie dringend wir handeln müssen. Lesekompetenz ist zwingend notwendig für selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe und der Schlüssel für ein erfolgreiches Berufsleben. Damit ist Leseförderung nicht nur grundlegend für den individuellen Lebensweg, sondern für unsere gesamte Demokratie.«

Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, nennt die Ergebnisse »alarmierend«. Man müsse »die Abwärtsspirale dringend stoppen«. Maas: »Neben dem hohen Stellenwert der Familie als Vorbilder brauchen wir ausreichend Mittel und Kapazitäten in Kindertagesstätten und Schulen. Sich für die Leseförderung einzusetzen, hat einen erheblichen bildungs- wie gesellschaftspolitischen Stellenwert. Denn wie gut wir Kinder beim Lesen lernen unterstützen, ist entscheidend für unsere gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung. Wir müssen erreichen, dass für jedes Kind Vorlesen fester Bestandteil von frühester Kindheit ist.«


Foto: dvb | Mejdi El Bekri

„Leseförderung muss endlich bildungspolitisch höchste Priorität bekommen.“

– Volker Heller, dvb-Bundesvorsitzender

Der Bundesvorsitzende des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv), Volker Heller, nennt die Ergebnisse der IGLU-Studie »besorgniserregend, vor allem, weil wir seit Jahren einen Abwärtstrend bei der Lesefähigkeit der Grundschulkinder sehen. Leseförderung beginnt nicht erst in der Schule, sondern muss so früh wie möglich systematisch, flächendeckend und professionell umgesetzt werden.« Dafür brauche es neben den Eltern »uns alle«: Kitas, Schulen, Ehrenamtliche, Initiativen und außerschulische Bildungspartner wie Bibliotheken, die Kinder frühzeitig für das Lesen begeistern und im Lernprozess unterstützen. »Leseförderung muss endlich bildungspolitisch höchste Priorität bekommen. Sie braucht einen rechtlichen Rahmen für verbindliche Kooperationen, abgestimmte Bildungspläne sowie ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen.« Nur so werde Kindern einen guter Start für ihren Bildungsweg ermöglicht.


DVB, BÖRSENVEREIN & STIFTUNG LESEN: Leseförderung und Nationaler Lesepakt

Der dbv erinnert: »Die Leseförderung ist eine Kernaufgabe der Öffentlichen Bibliotheken. Als wichtige Säule in vernetzten lokalen Bildungslandschaften leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Sprach- und Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen. Für Familien, Kitas und Grundschulen bieten sie Lesemedien, Lehr- und Lernmaterial an, stellen Bücherboxen zur Verfügung und veranstalten Vorlesenachmittage und Bilderbuchkinos.«

Gemeinsam mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat die Stiftung Lesen den Nationalen Lesepakt gegründet. Über 180 Partner aus Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik haben sich hier zusammengeschlossen, um Leseförderung verbindlich werden zu lassen. Die Initiative strebt ein bundesweites Maßnahmenpaket an, welches für Verbindlichkeit und einheitliche Strukturen für alle an der Leseförderung beteiligten Partner sorgen soll. Ziel ist es, dass alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland lesen können.
bibliotheksverband.de boersenverein.de www.stiftunglesen.de   


Die Ergebnisse aus IGLU 2021 im Detail

Die Ergebnisse der IGLU 2021 zeigen ein ernüchterndes Bild: Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässler*innen in Deutschland ist mit 524 Punkten im internationalen Vergleich zwar im Mittelfeld, verglichen mit der Ausgangserhebung 2001 (539 Punkte) und allen weiteren Erhebungen (2006: 548, 2011: 541, 2016: 537 Punkte) sind die mittleren Leistungen jedoch signifikant gesunken. Im Hinblick auf den Vergleich zwischen 2016 und 2021 liegt Deutschland nahe am Durchschnitt der teilnehmenden EU-Länder, die im Mittel in den letzten fünf Jahren ähnlich viel verloren haben. Allerdings erreichen einige europäische Länder wie beispielsweise Italien (537 Punkte), Bulgarien (540 Punkte), Polen (549 Punkte), Finnland (549 Punkte) oder England (558 Punkte) auch deutlich höhere mittlere Leistungen. Spitzenreiter sind Singapur (587 Punkte) und Hongkong (573 Punkte).

Nele McElvany, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund und Wissenschaftliche Leitung von IGLU 2021 erläutert: »Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen und die sich verändernde Schülerschaft erklären nur einen Teil dieses Leistungsabfalls. Es muss klar festgehalten werden, dass der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht und die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem in den letzten Jahren durch diese Aspekte nur verstärkt wurde.«

20-Jahre-Trend: Ergriffene Maßnahmen zeigen keine ausreichende Wirkung

Neben dem Rückgang der mittleren Leistungen sind auch die Unterschiede zwischen guten und schwachen Lesenden in Deutschland im Vergleich zu 2001 größer geworden. Zudem sank der Anteil der guten bis sehr guten Lesenden von 47 Prozent in 2001 auf 39 Prozent in 2021, während gleichzeitig der Anteil derer, die nicht die mittlere Kompetenzstufe III erreichen, von 17 Prozent im Jahr 2001 auf 25 Prozent im Jahr 2021 anstieg.

»Die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern«, so Nele McElvany. Es zeigen sich weiterhin substanzielle Unterschiede sowohl bei der Leistung als auch bei der Gymnasialempfehlung in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund der Grundschulkinder. Um letztgenannte zu erhalten, müssen Kinder aus Arbeiterfamilien nach wie vor wesentlich mehr leisten als Kinder aus Akademikerfamilien. Auch bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten hat ein Kind aus einer (Fach)Arbeiterfamilie eine 2,5 Mal geringere Chance auf eine Gymnasialpräferenz seiner Lehrkraft als ein Kind mit Eltern in der Oberen Dienstklasse (z.B. führende Angestellte und höhere Beamte).

Soziale Disparitäten, das macht IGLU 2021 deutlich, sind in Deutschland weiterhin stark ausgeprägt. Ebenso sind die migrationsbezogenen Leistungsdisparitäten im Vergleich zu 2001 nicht geringer geworden. »Befunde anderer Teilnehmerstaaten, wie beispielsweise Finnland, Italien oder Slowenien (für geringere soziale Disparitäten) oder Dänemark, Niederlande oder Tschechien (für geringere migrationsbezogene Unterschiede), zeigen hingegen positivere Ergebnisse und implizieren damit, dass eine starke Verknüpfung von familiärer Herkunft und schulischem Erfolg, wie es in Deutschland der Fall ist, keinen unausweichlichen Automatismus darstellen müssen«, führt die Bildungswissenschaftlerin aus.

Was folgt aus der Studie?

Angesichts des alarmierenden Rückgangs der mittleren Lesekompetenz und des hohen Anteils von einem Viertel der Schüler/-innen mit unzureichender Lesekompetenz sei es notwendig, gezielte Maßnahmen (weiter-) zu entwickeln. »Es hat in den vergangenen 20 Jahren zwar schon zahlreiche Bemühungen gegeben, doch zeigt die neueste Studie, dass die gewünschten Wirkungen in weiten Teilen ausgeblieben sind«, konstatiert die Bildungsforscherin von der TU Dortmund. Dazu sei es erforderlich, die Sicherung der grundlegenden Kompetenzen wie der Lesekompetenz durch eine systematische Kompetenzförderung in den ersten Grundschuljahren zu priorisieren.

Während einerseits die Lesekompetenz der schwachen Lesenden gestärkt werden muss, muss gleichzeitig die der starken Lesenden gefördert und ausgebaut werden. Dabei ist auch die Quantität der lesebezogenen Aktivitäten in der wöchentlichen Unterrichtszeit zu bedenken: Während im internationalen Durchschnitt rund 200 Minuten pro Woche für Leseaktivitäten in der Unterrichtszeit aufgebracht werden, sind es in Deutschland gerade einmal 141 Minuten.

Gesellschaftlich steht in der Verantwortung

Nele McElvany weist mit Blick auf die gesellschaftliche Verantwortung nachdrücklich auch darauf hin: »In Bezug auf die substanziellen Bildungsungleichheiten zeigt IGLU, dass sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland praktisch nichts verändert hat. Das hat hohe Kosten für die betroffenen Individuen, für unsere Gesellschaft und unser Land und darf nicht weiter so bleiben.« Deutschland muss mit seinem Bildungssystem zukünftig sicherstellen, dass alle Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen. ~ [pm / Martin Schmidt]

🗎 Die ausführlichen Ergebnisse der IGLU-Studie sind verfügbar unter ifs.ep.tu-dortmund.de/iglu2021

🗎 Weiterführende Analysen zu zentralen Themen im Kontext der Grundschulen in Deutschland werden in der Reihe Tuesdays for Education ab dem 13. Juni 2023 monatlich unter ifs.ep.tu-dortmund.de/praxis-videoportal/praxisportal veröffentlicht.


🎓 🏭 INSTITUTS-PORTRAIT: DAS IFS

Das interdisziplinäre Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund ist als Forschungseinrichtung an der Schnittstelle von Wissenschaft, schulischer Praxis und Bildungspolitik angesiedelt. Die durch fünf Professuren und rund 50 Mitarbeiter/-innen gestalteten Forschungsbereiche des Instituts arbeiten zu aktuellen Themen im Bereich der Empirischen Bildungsforschung. Ziel: schulische Lern- und Entwicklungsprozesse, Schulentwicklung und Bildungsergebnisse im Kontext ihrer individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen erfassen, erklären und optimieren. Das IFS trägt mit seiner Arbeit wesentlich den Profilbereich Bildungs- und Arbeitswelten von morgen der TU Dortmund mit.

ifs.ep.tu-dortmund.de


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