»What Was Left«. Eine poetische Archivierung von Buchspuren.

Mit einer Lesung und Vorträgen wurde an der Unibibliothek Augsburg das Buch-Kunstprojekt »What Was Left« präsentiert. Die Künstlerinnen Nurgül Dursun und Eda Aslan spürten dem nach, was Menschen einst in den 1933 bis 1945 verfemten Büchern der Augsburger Sammlung Georg Salzmann hinterließen. Ergebnis ist ein poetische Re-Archivierung, als Publikation erhältlich in einer limitierten, handgefertigten Auflage von 30 Exemplaren – und an der Uni zu bestaunen.

Die NS-Bücherverbrennungen jähren sich heuer zum 90. Mal. Die Hamburger Künstlerinnen Nurgül Dursun und Eda Aslan fragten: Welche Spuren haben frühere Besitzer/-innen und Leser/-innen in den 1933-1945 verfemten Büchern der Augsburger Bibliothek der verbrannten Bücher – Sammlung Georg Salzmann hinterlassen? Was verraten uns Anstreichungen, Notizen oder vergessene Objekte darüber, wie diese Werke gelesen wurden? Ihr 500-seitiges Buch What Was Left dokumentiert hunderte Fundstücke und Lesespuren, führt sie in ihrer Vielseitigkeit an einem Ort zusammen und wird so selbst Teil der Sammlung.

Das Buch wurde nun am 90. Jahrestag der NS-Bücherverbrennungen, am Mittwoch, 10. Mai, in der Teilbibliothek Geisteswissenschaften an der Uni Augsburg vorgestellt. Trotz eines regnerischen Mittwochnachmittags fanden sich rund 30 interessierte Gäste in einer eigens mit Sofas geschaffenen Leselounge im vierten Stock nahe dem Leseraum Salzmann ein – Besucherinnen und Besucher sowohl aus Lehre und Studium, aber natürlich auch von der Unibibliothek.

Dr. Andrea Voß (Universitätsbibliothek Augsburg) gab eine kurze Einführung in das Projekt, das nun nach zwei Jahren Laufzeit ( auxlitera berichtete) mit der Buchveröffentlichung seinen krönenden Abschluss fand. Sie und Katja Schroeder, Künstlerische Leiterin des Kunsthauses Hamburg, verfassten die Vorworte im Buch. Den Text von Katja Schroeder bildet auxlitera mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin unten ab. Der gesamte Recherche- und Arbeitsprozess war von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius unterstützt worden.

Ihre leider am Präsentationstag erkrankte künstlerische Partnerin Nurgül Dursun mitvertretend, führte Eda Aslan mit einem englischen Text in das Projekt aus Künstlerinnen-Sicht ein. Auch Gihong »Kiki« Park, der Buchdesigner, war zu Gast und gab Einblick in sein Gestaltungskonzept.

In einer rund 30-minütigen Lesung wurden Texte aus den verwendeteten Büchern aus der Sammlung Salzmann vorgetragen. Dr. Friedmann Harzer vom Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft las Texte von Hans Keilson, Dr. Sophia Dafinger vom Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte las einen Auszug aus Lion Feuchtwangers Jud Süß und die Literatur-Studentinnen Michaela Krauth und Klara Mößnang trugen Texte von Edith Jacobson und Gertrud Kolmar vor. Dann konnten die Fundstücke, welche die Basis des Kunst- und Erinnerungsbuches What Was Left bildeten und in drei Glasvitrinen ausgestellt sind, unter regem Austausch betrachtet werden.

• Vom 21. Juni bis 14. Juli 2023 wird die Ausstellung zudem in der Gesamtschau Bücher. Namen. Orte. 1933 zu sehen sein (Zentralbibliothek). Das Buch befindet sich im nun auch Dauerbestand der Sammlung Georg P. Salzmann (OPAC: 640/GM 1461 A835) in der Universitätsbibliothek Augsburg. Da die Künstlerinnen und der Verlag aus Hamburg bzw. dort angesiedet sind, ist What Was Left auch in Hamburg zu sehen: vom 10. Mai bis 10. Juni in der Universitäts- und Staatsbibliothek Hamburg.

Ein paar der Fundstücke: Zurückgelassenes in den einst verfemten Büchern der Sammlung Salzmann. Diese und andere Rohformen der Scans bildeten die Grundlage für das Kunst- und Erinnerungsprojekt »What Was Left«, einem Kunstbuch der Künstlerinnen Nurgül Dursun und Eda Aslan. Bereitstellung der Digitalisate mit freundlicher Erlaubnis der Künstlerinnen und des Verlags. Bei dem Digitalisat handelt es sich um eine Preprintversion, nicht um eine vollständige Reproduktion der finalen Druckausgabe • Fotos: © Universität Augsburg | Nurgül Dursun, Eda Aslan

Das Buch What Was Left ist in einer limitierten Kleinstauflage von 30 Exemplaren in der edition HFBK 94 des Material-Verlag der HfBK Hamburg erschienen. Der Umschlag ist aus im Siebdruck-Verfahren bedrucktem Ingres Büttenpapier, dem Buch liegt ein gefaltetes, 11-seitiges Booklet bei. Mit Textbeiträgen von Katja Schroeder (Künstlerische Leiterin Kunsthaus Hamburg) und Dr. Andrea Voß.

• Restexemplare sind bei den Künstlerinnen erhältlich:

E-Mail: Nurgül Dursun | nurguel.dursun@gmail.com
E-Mail: Eda Aslan | edda.asl@gmail.com

Katja Schroeder ist Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des Kunsthauses Hamburg.

KATJA SCHROEDER – VORWORT zu »What Was Left« von Nurgül Dursun & Eda Aslan*)

Was ermöglicht freie Meinungsbildung und kritisches Denken? Vielleicht ist es das Lesen zwischen den Zeilen, die subjektive Aufmerksamkeit für ausgewählte Textpassagen, der Vergleich mit bereits Gelesenem, der Austausch im Freundeskreis oder eine Notiz aus der Vorlesung, die Literatur zugänglich und lebendig werden lässt. Es sind die unterschiedlichsten kontextuellen Bezüge, die im eigenen Denken oder Leben Widerhall finden. Es ist der Boden, auf dem Gelebtes und Gelesenes aufeinandertrifft und neue Denkräume eröffnet.

So sind die Fundstücke, die Aslan/Dursun in ihrer Arbeit What Was Left in den Mittelpunkt rücken, Verweise auf die Leser*innen, der von den Nazis verbrannten und verbotenen Bücher. Es sind Spuren eines geistigen Resonanzraums, der sich erst durch den Gebrauch der Bücher, das Lesen, Verschenken, Zitieren oder darüber sprechen, entfalten kann. Was die Künstlerinnen in den Büchern finden und in dieser Arbeit abbilden, zeugt von einer oft sehr individuellen Erfahrung der Leser*innenschaft.

What Was Left lässt mich unweigerlich an zwei zeitgenössische Arbeiten denken, die zuletzt umfangreich in Deutschland gezeigt wurden. Die Bücher der deutschen Künstlerin und Fotografin Annette Kelm sowie der Pantheon der Bücher der argentinischen Konzeptkünstlerin Marta Minujin. Erstere ist eine Serie von Fotografien, die ebenfalls wie die Arbeit von Aslan/ Dursun, zu Teilen auf dem Archiv von Georg P. Salzmann basiert und die Cover ausgewählter Erstausgaben der verb(r)annten Bücher dokumentiert. Kelm lässt die Buchumschläge durch ihre präzise und gleichermaßen zurückgenommene Fotografie fast skulptural und lebendig erscheinen. Autor*innennamen und Coverillustrationen in der visuellen Bildsprache ihrer Zeit geben dem intellektuellen und kulturellen Kosmos, den die Nazis zu unterdrücken versuchten, ein Gesicht.

Auch Aslan/ Dursun widmen sich der Sammlung von Erstausgaben jener Bücher, die von den Nazis 1933 öffentlich verbrannt und deren Verbreitung verboten wurden. In ihrer Arbeit sind es allerdings weniger die Bücher als Objekte und Medien, denn als Träger der Spuren jener Menschen, welche die Bücher lasen, sie versteckten, wiederentdeckten oder nicht ahnten welche Bedeutung sie hatten. Es sind die unsichtbaren Wege, die die Literatur, ihre Geschichten, ihre Worte und Ideen in Form der einzelnen gedruckten Exemplare nahmen, die in dieser Arbeit Beachtung finden. Es sind zuweilen sehr individuelle, aber auch banale Fundstücke oder subjektive Notizen, Lesezeichen und Unterstreichungen — jener Menschen, die die verbotenen Bücher in die Hand nahmen, sie lasen oder erst Jahre nach dem Verbot als Lektüre entdeckten.

🏃‍♀️ ► Fortsetzung unten nach dem Video

2022: Aus der Arbeit an »What Was Left«

► 🏃‍♀️ Fortsetzung von oben

Aber die Notizen und Fundstücke, die hier im Mittelpunkt stehen, sind auch der Hinweis auf individuelle Schicksale. Viele Autorinnen sahen nicht nur ihre Bücher verbrennen, sondern auch ihre physische und psychische Existenz. Einige von Ihnen haben die Verbrennung überdauert — in Verstecken, in Archiven, in Vergessenheit. Viele Werke fielen aber — wie auch zahlreiche der Autorinnen selbst —in Vergessenheit, bzw. waren nicht in der Lage, sich vom Trauma des Verbots, der Verbannung, der Verluste oder des Exils zu erholen. Denn ein Ziel der Bücherverbrennungen war das Schweigen der Autorinnen sowie die geistige Zensur einer ganzen Gesellschaft.

Die Sammlung von Georg P. Salzmann stellt daher den Versuch dar, das Buch als Medium für Ideen und Geschichten vor einem erneuten Vergessen zu bewahren. Dafür wählte Salzmann die Originalausgaben, welche die Spuren der Zeit, in der sie entstanden sind, tragen. Über jene Zeitebene legt sich in der Arbeit von Aslan/Dursun nun durch die Erfassung der Fundstücke aus den Büchern eine weitere zeitliche Ebene. So transportieren die Markierungen und Fundstücke nicht nur den zeitlichen Kontext ihrer Genese, sondern gleichermaßen die Zeit, in welcher die Bücher rezipiert wurden, in welcher sie verschenkt oder gekauft wurden; bis hin zur Übergabe an den Sammler Salzmann.

Es finden sich ebenso Hinweise auf Orte, an welche die Bücher vermutlich mitgenommen wurden, an welchen sie gelesen wurden, oder an welchen ihre Leser*innen sich aufhielten. So entfaltet What Was Left ein weites Netz in Raum und Zeit, das deutlich macht, was freies Denken über Grenzen, Zeiten und politische Realitäten hinweg bedeutet.

Das zweite bereits erwähnte Beispiel der Auseinandersetzung mit intellektueller Zensur von Marta Minujin ist eine Arbeit mit globaler Perspektive, die in einer monumentalen Installation auf dem Friedrichsplatz während der documenta 14 eine Form fand. Hier türmten sich zahllose Ausgaben von Büchern, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichsten Orten der Welt verboten waren oder bis heute der Zensur unterliegen. Parallel zu dieser documenta-Installation hatten Studierende an der Universität Kassel 2017 eine sehr umfangreiche Liste von über 70.000 Titeln erstellt, die weltweit von Zensur betroffen waren. Auf dieser heute online zugänglichen Liste befinden sich auch ca. 1.000 Bücher, die in der Türkei teils bis heute verboten sind — einem Land indem zahllose Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Journalistinnen in Gefängnissen sitzen oder das Land verlassen haben.

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Interesse Aslans und Dursuns an deutscher Geschichte aus aktueller Perspektive neu betrachten, ohne direkte Parallelen zu ziehen. Mit ihrem Puzzle aus persönlichen Notizen, zufälligen Fundstücken und konkreten Vermerken zur Literatur, die sie in den verbannten Büchern gefunden haben, setzen sie ein Zeichen für den stillen Widerstand, für die fragile Überlebensfähigkeit sowie die individuelle Entfaltung intellektueller Potentiale, die sich aus den vielen kleinen Einzelteilen als gesamtes Bild ablesen lassen. Jedes ist Zeugnis davon, dass die Bücher einen Weg in die Hände und damit auch in die Köpfe ihrer Leser*innen gefunden haben, oder es zumindest taten, bevor sie verbrannt wurden.

What Was Left macht deutlich, dass diese Bücher einmal lebendig waren und auch wieder lebendig gemacht werden können; dass sie gelesen, verschenkt, verwahrt oder wiedergefunden werden können und durch individuellen Gebrauch und Zirkulation eine Möglichkeit des Überlebens finden können. Die fragile Spur der Leser*innenschaft, die hier portraitiert wird, kann gleichermaßen als kollektive Fähigkeit gelesen werden, die sich Propaganda und Denkverboten zu entziehen vermag — auch wenn dies subjektiv betrachtet häufig unmöglich erscheint.

(* – Vorwort aus: What Was Left. Mit freundlicher Genehmigung von Katja Schroeder, Künstlerische Leiterin des Kunsthauses Hamburg.


Eda Aslan & Nurgül Dursun: What Was Left.
Limitierte Auflage von 30 Exemplaren, Papier: Gardapat 13 Klassika; Umschlag gefaltet aus Poster in Siebdruck.
Mit Texten von Katja Schroeder und Dr. Andrea Voß.
Betreuer: Wigger Bierma / Ralf Bacher
Gestaltung: Gihong Park
500 Seiten + 1 Beiheft mit Begleittexten
Material 444 • edition HFBK 94 • Materialverlag – HFBK, Hamburg 2023
ISBN: 978-3-944954-74-5
– 1. Auflage Mai 2023


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