Das Erlebte erschreiben, Zeitenworte erinnern

Dr. Andreas Mäckler ist Biografik-Experte, Kursleiter für biografisches Schreiben und Gründer des Biographiezentrums. Er ist unser neuer Gast beim auxlitera-Fragebogen über Sprache, Sprechen & Worte.


Speak & Spell

: subtext sprache :

Folge 3 mit: Dr. Andreas Mäckler
Biografik-Experte • Gründer des Biographiezentrums • Kursleiter für das Schreiben von Memoiren

– Geboren 1958 in Karlsruhe, aufgewachsen in Hessen. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Neuere deutsche Literatur in Marburg/Lahn. Lebt und arbeitet in Kaufering (bei Landsberg am Lech).

ANDREAS MÄCKLER ist Gründer des Biographiezentrums – der Vereinigung deutschsprachiger Biografinnen und Biografen. Neben Biografiekursen bietet Andreas Mäckler auch Ausbildungen zur Professionalisierung in der Auftragsbiografik an.

Schreibkurse:www.meine-biografie.com
Autorenseite:www.maeckler.com
Kontakt:E-Mail


Herr Mäckler, Sie lehren das Schreiben von Autobiografien. Gibt es eine Autobiografie (oder Biografie?), die Sie gerade selbst lesen?
Ja, Werner Herzogs Erinnerungen: Jeder für sich und Gott gegen alle (2022). Ich bin seit langem mit Werner Herzogs Sohn Rudolph und dessen Mutter Martje Herzog befreundet, so habe ich auch öfters den berühmten Regisseur persönlich kennengelernt: ein künstlerisches Vorbild, seit meiner Jugend!

Und welches (Nicht-Biografie-)Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Am liebsten lese ich die Bücher von Freunden, in diesem Fall Christoph Poschenrieders neuen Roman: Ein Leben lang (2022). Ich bewundere Christoph sehr; ein ausgezeichneter Autor.

Welchen Titel würden Sie Ihrer eigenen Autobiografie geben? Sie müssen nicht verraten, warum. Aber Sie könnten es.
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, obwohl die Frage in meinen Biografiekursen immer wieder auftaucht. Einer meiner Kursteilnehmer hat vor rund zwanzig Jahren geschrieben: Es hätte schlimmer kommen können – Mein Leben. Diesen Titel erinnere ich noch heute.

Welche (Auto)biografie(n) sollte man Ihrer Meinung gelesen haben und warum?
Die Biografien von Dieter Kühn sind in der deutschen Biografik des 20. Jahrhunderts eine lesenswerte Größe. Seine Autobiografie Das magische Auge – Mein Lebensbuch (2013) begeistert mich. Im Gegensatz zu früheren Zeiten gibt es heute aber keinen verbindlichen Bildungskanon mehr, was manche bedauern mögen. Andererseits entsteht dadurch die Freiheit zu lesen, was einem gefällt, ganz nach dem Sprichwort: »Du bist, was du liest.« So kann man seine eigene Autobiografie auch nach wechselnden Lieblingsautoren und Büchern gliedern. Ich habe seit meiner Jugend unzählige Biografien und Autobiografien aus nahezu allen Jahrhunderten gelesen. Gern mag ich schräge Weltsichten und deren Protagonisten, beispielsweise Das Kuriositäten-Kabinett (1923) von Emil Szittya. Mit Humor ist das Leben – so oder so – besser zu ertragen.


SPRACHE UND HEIMAT.
Wie hängt das zusammen?

Durch meine Frau, die in Mombasa (Kenia) geboren worden ist und deren Eltern in Uganda leben, ist Uganda zu meiner zweiten Heimat geworden, die wir jährlich mehrere Wochen lang besuchen. Amtssprache ist Englisch und ich fühle mich wohl mit dem afrikanischen Familienzweig, doch tiefere Gespräche vermisse ich und letztlich bin ich fremd. Heimat ist also vielleicht dort, wo wir eine gemeinsame Sprache sprechen.
– Andreas Mäckler


Wenn Sie die Formate Autobiografie und Biografie gegenüber stellen: Wo sehen Sie persönlich jeweils die Vorzüge und was bevorzugen Sie als Leser?
Beides sind tradierte Formen und subjektiv gefärbt, weshalb die Wissenschaften – selbst die historischen – sie als Quelle kritisch sehen. Ich spreche daher gern von »biografischer Wahrheit«, in der alles enthalten ist, was Goethe schon mit dem Titel seiner Autobiografie zusammengefasst hat: Dichtung und Wahrheit (1808-1831). Um also Ihre Frage zu beantworten: Ich mag als Leser beide Formen.

Welche(s) Wort(e) konnten Sie als kleines Kind als erstes sprechen?
Darüber habe ich keine Informationen, vermutlich »Mama«. Eine meiner ersten Erinnerungen dagegen ist mir heute noch lebendig: Ich sitze als Dreijähriger auf dem Schoß meines Onkels Melang und male Wellenlinien auf ein Blatt Papier, das er vor mich auf den Tisch gelegt hat, und sage: »Ich schreibe dir einen Brief.« Schreiben ist später mein Beruf geworden: Briefeschreiben an die Leser in Form von Büchern.

Das schönste Wort, das ich kenne:
Für mich ist das schönste Wort der Welt der Name meiner Tochter: Anelia. Als sie fünf Jahre alt war, ist sie einmal gefragt worden: »Was macht denn dein Papa beruflich?« »Er ist Biograf«, hat sie geantwortet, »er scheibt Biografien über mich.« Seit ihrer Geburt 2008 gestalte ich Jahr für Jahr für sie sogenannte Anelia-Bücher, biografische Fotobücher mit erläuternden Texten im Umfang von jeweils 152 Seiten.

Welchen Anglizismus, welches Fremdwort, welchen Begriff der Jugendsprache oder welches Blähwort finden Sie ganz schrecklich?
»Alternative Fakten« – Lug und Trug sind zwar seit Jahrtausenden in der Menschheitsgeschichte allgegenwärtig, aber in der heutigen Medienwelt scheint Wahrheit keine Kategorie mehr zu sein, die maßgeblichen Wert hat. Das empfinde ich als sehr bedenklich.

Welchen Dialekt hören Sie besonders gern – und warum? Sprechen Sie selber in Dialekt?
Leider nein. Ich mag Dialekte gern, weil sie mit Heimatverbundenheit zu tun haben. Mir allerdings ist meine Karlsruher Mundart von den anderen Kindern gründlich aus dem Leib geprügelt worden, als ich mit acht Jahren nach Hessen in eine Dorfschule wechseln musste und später in ein Internat bei Paderborn. So spreche ich hochdeutsch, empfinde dies manchmal aber auch als Entwurzelung, weil ich regionalsprachlich nirgends hingehöre.


SPRACHE UND LEBENSWEG.
Wo ist für Sie der wichtigste Zusammenhang?

Vordergründig scheint unser Lebensweg chronologisch zu verlaufen von der Wiege bis zur Bahre, so wie auch der Zeiger einer Uhr tickt und uns jeden Moment eine neue Gegenwart anzeigt, die dann auch schon wieder Vergangenheit ist. Je älter wir also werden, desto mehr Vergangenheit haben wir. Doch unsere Erinnerung an Vergangenes kann sehr gegenwärtig sein, manche unserer Erinnerungen empfinden wir als so frisch »wie am ersten Tag«.

Diese »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, die jeder Beschäftigung mit Vergangenem eigen ist, verdeutlicht, weshalb im biografischen Schreiben das lineare, zweidimensionale Modell der Zeit nur ein erstes Hilfsmittel sein kann, um unsere Lebensgeschichte aufzuschreiben. Vielleicht empfinden wir deshalb chronologische Lebensläufe auch häufig als flach und blutleer, denn in Wirklichkeit ist die Zeit – so wie unser inneres Leben und unsere Psyche – ein vieldimensionales Phänomen, das wir sprachlich zu formen versuchen.
– Andreas Mäckler


Welche prominente Person bewundern Sie für ihre Sprachfertigkeit oder ihre Art, zu sprechen?
Ich höre gern die Stimme des Filmregisseurs Werner Herzog. In vielen seiner Dokumentarfilme hat er die überleitenden Texte nicht nur selbst geschrieben, sondern sie auch selbst gesprochen und damit seine eigene Stimme bis in die innere Artikulation hinein kultiviert; das ist eine große Kunst! Ein Graus dagegen ist für mich, Politiker reden zu hören, allen voran die Plagiatorin Annalena Baerbock.

In welchem literarischen Werk (oder im Alltag!?) ist Ihnen bislang die schönste Sprache begegnet?
In meiner Jugend mochte ich André Hellers musikalisch-dichterisches Werk, überhaupt die österreichischen Liedermacher, beispielsweise Wolfgang Ambros (Der Watzmann ruft, Schaffnerlos und Augustin). Im Laufe meines Lebens bin ich jedoch zunehmend davon abgekommen, nach Superlativen in der Sprache und in künstlerischen Werken zu suchen. Als Dozent von Biografiekursen bemühe ich mich, die eigene Sprache der Teilnehmer zu fördern und sie als schön zu empfinden, wenn sie authentisch ist.

Welche Abkürzungen (z.B.) aus dem Bereich Social Media / digitale Kommunikation mussten Sie kürzlich nachschlagen?
Da fällt mir nichts ein. In meinen Biografiekursen lesen wir die Texte in der Gruppe laut und da mache ich die Teilnehmer anhand des Sprachklangs oft darauf aufmerksam, dass Abkürzungen im biografischen und literarischen Schreiben zu vermeiden sind, wenn sie nicht als Stilmittel gebraucht werden.

Welche aktuelle Sprachentwicklung betrachten Sie mit Sorge?
Das Gendern! Sätze wie »Journalist:innen befragten Bürgermeister:innen zur Lage der Bürger:innen« klingen albern und aufgebläht. Ich sehe keinerlei Informations- und Erkenntnisgewinn in solchen Sprachformen, eher das Phänomen der Wichtigtuerei von Leuten, die von Sprache und Sprachklang keinerlei Ahnung haben.


In welcher Form mögen Sie Sprache am liebsten?
Multiple Choice: 3 Antworten erlaubt

gesprochen
mit Musik
□ übers Telefon
□ handgeschrieben

als Klang erinnert
□ SMS / WhatApp
□ von einem bestimmten
Geschlecht: ____
□ zu zweit

Kindermund

Buch / E-Book
geflüstert

□ Hörbuch
□ auf der Theaterbühne
gesungen
□ Stimmengewirr im Bus
□ SMS / WhatApp
□ Voicemail

anders: __________________


Ein Vergleich: Welches Gemälde oder Musikstück oder welcher Duft/welches Essen vermag es widerzuspiegeln, wie menschliche Sprache idealerweise sein sollte?
Mir fallen barocke Sprachbilder zu Ihrer Frage ein: visuelle Lyrik, beispielsweise Liebesgedichte, kalligraphisch in Herzform gestaltet, oder das Gedicht Eine Sanduhr von Johann Helwig, typographisch wie eine Sanduhr gesetzt. Ebenso wie unser Leben ist auch die Sprache Entwicklung, ständig im Fluss. Daher wäre ein mäanderndes Gewässer vielleicht ein gutes Bild für Sprache.

Mit welcher Tierart (oder Pflanze?!) würden Sie sich gerne in deren Sprache verständigen können wollen?
Ich finde Bäume faszinierende Wesen. Schade, dass ich ihre Sprache nicht verstehe. Unsere beiden Katzen und unser Hund machen mir rhetorisch dagegen schon ziemlich klar, was sie wollen – und was nicht. Da gibt es wenig Missverständnisse, trotz verschiedener Sprachen, die wir sprechen.

Welches Fremdwort sprechen Sie regelmäßig falsch aus?
Amaturenbrett, statt Armaturenbrett.

Das schönste älteste Wort (oder Sprichwort, Redewendung,…) ist:
Ob es das älteste Wort ist, sei dahingestellt, doch schön klingt »herzinniglich« allemal – bildhafter als nur »innig«.


SPRACHE UND ERINNERUNG.
Wo sind die Verbindungen?

Wir erinnern uns bekanntlich nicht nur über unser Sprach-, sondern auch über das Zellgedächtnis unseres Körpers, in dem die Spuren unseres Lebens gespeichert sind. So wie die Zeit scheint auch unsere Sprache linear zu verlaufen, doch wir denken keineswegs nur in vollständigen Sätzen und linearen Ausführungen – im Gegenteil!

So ist es auch mit der Zeit: Einer der Kernsätze der Biografik lautet daher: Erinnerung ist Gegenwart! Indem wir etwas erinnern, das Jahre und Jahrzehnte zurückliegt, ist es in unserem Gedächtnis auch heute noch gegenwärtig. Die Sprache ist aber nur ein Hilfsmittel, um Erinnerungen in Worte zu fassen, vieles unserer Erinnerungen bleibt ungesagt.
– Andreas Mäckler


Wenn Sie mitten in der Nacht aufgeweckt werden und Sie würden nach einer Kinderliedzeile oder einem Abzählreim gefragt werden, welche/s Lied/Abzählreim würden Sie sofort auf den Lippen haben?

Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir.
Mit dem kleinen Hackebeilchen
macht er Schabefleisch aus dir,
aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.

Welchen Liedertext – unabhängig von der Melodie – finden Sie wunderschön?
Herbert Grönemeyers Liedtext Mensch berührt mich:

Und der Mensch heißt Mensch
Weil er vergisst, weil er verdrängt
Und weil er schwärmt und stählt
Weil er wärmt, wenn er erzählt
Und weil er lacht, weil er lebt
Du fehlst.

Welches Wort, sagt man Ihnen nach, benützen Sie am meisten?
Meine Tochter (14 Jahre alt) sagt ständig »Hallo«, wenn sie auftaucht, oder »Was?«, wenn ich sie anschaue. Daraus habe ich einen Flachwitz entwickelt: Treffen sich Frau Hallo und Frau Was. »Hallo«, sagt Frau Hallo. »Was?«, fragt Frau Was. »Nichts«, sagt Herr Nichts, der zufällig auch noch hinzu gekommen ist. Das sind meine meistbenutzten Wörter, zumindest im Wortspiel mit meiner Tochter.

Sind auf Ihrem Smartphone bei SMS/Whatsapp Autokorrektur eingeschaltet?
Nein.

Schreiben Sie am Smartphone Nachrichten oder hinterlassen Sie lieber Sprachnachrichten?
Ich nutze das Smartphone weitgehend nur zum Online-Schachspielen mit anderen Leuten auf der ganzen Welt.


SPRACHE KANN …
SPRACHE IST AUßERDEM …

»Sprache ist der Schlüssel zur Welt«, lautet ein berühmtes Zitat Wilhelm von Humboldts. Ich bemühe mich in meinen Biografiekursen, die Teilnehmer zu ihrer eigenen Sprache und damit in ihre eigene Welt- und Lebenssicht zu führen.
– Andreas Mäckler


In welches Land würden Sie allein der dortigen Sprache wegen reisen?
Ehrlich gesagt interessiert mich die Sprache in anderen Ländern nur insofern, ob ich mich mit meinen Interessen und Bedürfnissen verständlich machen kann; ich reise mehr mit den Augen als mit Worten.

Welches Buch über Sprache(n) sollte man gelesen haben?
Wolf Schneiders Bücher zur deutschen Sprache sind sehr empfehlenswert.

Vom wem haben Sie in Ihrem Leben das meiste in Sachen Sprache und Sprechen gelernt?
Von der Münchner Schriftstellerin, Übersetzerin und Lektorin Bettina Blumenberg. Anfang der 90er-Jahre hat sie mit mir meine Kurzkrimis für die Yellow Press bearbeitet – Satz für Satz im Intensivlektorat. Oft schafften wir in einer Stunde nur anderthalb Manuskriptseiten. Das war wie Klavierunterricht und hat mir sehr geholfen, als Autor weiterzukommen.

In welchen Sprachen haben Sie Bücher zuhause?
Deutsch und Englisch.

Welche Sprache würden Sie gerne einwandfrei sprechen können (oder einmal lernen wollen)?
Ich bemühe mich seit Jahrzehnten, mein Deutsch in Wort und Schrift zu verbessern – damit habe ich genug zu tun und halte es mit dem berühmten Geiger Yehudi Menuhin, der gefragt wurde, warum er selbst im hohen Alter noch täglich übt: »Ich kann immer noch etwas besser werden«, hat er geantwortet.

Geben Sie uns mit den zwei Wörtern »Subtext Sprache« eine Probe Ihrer Handschrift. Oder: eine Gedichtszeile, oder ein Satz oder ein Sprichwort, der/das ihnen am Herzen liegt.

~ Konzept & Fragen: Martin Schmidt | auxlitera


www.meine-biographie.com


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