»Weil das Schreiben eine Art Lebensmittel ist«

Michael Lichtwarck-Aschoff ist einer der Preisträger des Schwäbischen Literaturpreises 2022. Der in Stadtbergen lebende Arzt zu Gast bei auxliteras Literarischem Questionnaire.

Michael Lichtwarck-Aschoff (76) ist Träger des dritten Preises des Schwäbischen Literaturpreises 2022. Die Jury zeichnete damit seine Novelle Und die Ringe haben geschwiegen aus. Der in Stadtbergen wohnende Arzt für Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Augsburg ist verheiratet und zwei Kinder und zwei Enkel. Wissenschaftliche Arbeit an der Universität Uppsala. In der Rente hat er neben der verbliebenen Unterrichtstätigkeit mehr Zeit zum Schreiben. Die Preisverleihung fand am 27. September 2022 statt.


AUXLESE:
das literarische Questionnaire
#02: mit Michael Lichtwarck-Aschoff

Zu Teil #01: mit Matthias Ferber.

Welche Autorin oder welchen Autor würden Sie gerne einmal persönlich kennenlernen? Und wenn Sie ihn/sie zu sich zum Dinner einladen, was würden Sie ihm/ihr kochen?
Dürfte ich eine lebende Person einladen, würde ich gerne Siri Hustved an unseren Küchentisch bitten. Und wenn es auch jemand sein kann, der leider nicht mehr lebt, dann Per Olov Enqvist. Für beide würden wir ein Brot backen, jetzt im Herbst Schälnüsse hinstellen, und ich bilde mir ein, die beiden würden gar nichts Aufwendigeres wollen.

Oder Georg Christoph Lichtenberg, unter anderem ein großartiges Physiker, mit dem ich darüber reden würde, warum die Rentiere im Sommer goldene und im Winter blaue Augen haben. Mit Martin Amo über Aberglauben. Überhaupt: ein ziemliches Gedränge in unserer kleinen Küche. Chimamanda Adichie wäre sicher ein atemberaubender Gast. Oder Ian McEwan. Richard Yates hätte ich auch gerne gegenüber sitzen, der hätte allerdings mit Brot wohl wenig Spaß.

Was ist das kostbarste oder teuerste Buch, das Sie besitzen?
Ich glaube, wir haben überhaupt keine kostbaren Bücher. Nur nützliche und weniger nützliche.

Welches Buch lesen Sie zur Zeit?
Physiologie der Tiere von Knut Schmidt-Nielsen, dem Gottvater der vergleichenden Physiologie. Miserable Angewohnheit, mehrere Bücher zugleich zu lesen, deswegen dann noch: Dee Unglaub Silverthorn (der Name ist für sich genommen schon ein Roman) Human Physiology. Außerdem von Sylvia Berger Bakterien in Krieg und Frieden. Lehrbücher für den Unterricht, bei dem ich regelmäßig mehr lerne, als diejenigen, die ich unterrichte.

Welches Buch ist vollkommen zerfleddert, kaputt und längst in neuer Auflage erhältlich und Sie werfen es trotzdem nicht weg?
Ein Gedichtband von Brecht (diese unsäglich zusammengepappten Suhrkamp-Bände) mit der Hauspostille, der Legende vom toten Soldaten und dem Anachronistischen Zug.

Haben Sie einen Lieblingsverlag oder gibt es einen Verlag, von dem Sie denken, dass er ein bemerkenswertes Portfolio hat?
Der Verlag Matthes & Seitz, speziell die von Judith Schalansky gestaltete Reihe Naturkunden.
(Die dort tätigen Manuskriptprüfer wünschen mir regelmäßig Glück mit meinem neuesten interessanten Buchprojekt, das sie selbst leider ablehnen müssen. Vielleicht haben sie ja Recht mit der Ablehnung, ein bisschen oder sehr Recht, darüber denke ich schon auch nach. Jedenfalls ist das der einzige Verlag, den ich kenne, der einem überhaupt ein Wort zur Absage schreibt, und dann auch noch ein freundliches.)

Welche Literaturveranstaltung, der Sie beiwohnten, war bisher die denkwürdigste, seltsamste oder eindrücklichste?
Zusammen mit meiner Schwester, sie ist Malerin, haben wir eine Mal- und Gedichtwerkstatt mit einer Grundschulklasse von 10-Jährigen gemacht, drei Tage hintereinander haben wir den Nachmittag zusammen gemalt und gedichtet. Dabei haben die Kinder dann solche hinreißenden Sachen geschrieben wie:

Ich hab ne große Fratze
Mit oben kleiner Glatze
Ich bin so grün wien Kolibri
Und habe keine Mutti mi.

Oder:

Heute bin ich cool
Morgen schwänz ich Schul
Übermorgen heirat ich
Die Ananas
Das ist mal was.

Bei welchem Buch ist es Ihnen etwas peinlich, es gelesen und für gut befunden zu haben?
Doktor Schiwago von Boris Pasternak.

Welche/n Augsburger Nicht-Literaten/in würden Sie gerne einmal als Gesprächsteilnehmer beim Literarischen Quartett oder als Jury-Mitglied des Bachmann-Preises sehen?
Bis vor einigen Jahren hat eine Frau aus unserem Ort (ich weiß schon, dass Stadtbergen nicht zu Augsburg gehört, aber nah sind sie einander halt) uns jeden Morgen die Zeitung gebracht. Ihren Namen würde sie wahrscheinlich nicht gern hier lesen, deswegen lasse ich ihn weg. Keine Ahnung, was sie von Literatur hält, das habe ich sie nie gefragt. Aber sie würde bestimmt jeden Text auf seine Nützlichkeit hin anschauen, und ob sich damit morgens leichter aufstehen lässt. Nicht das einzige Kriterium für einen guten Text, aber kein unwichtiges.

Mit welcher Autorin, welchem Autor möchten Sie auf keinen Fall im Aufzug stecken bleiben?
Ich kann Ihnen höchstens erzählen, mit wem ich für mein Leben gern im Aufzug steckenbleiben würde und der Notdienst müsste sich wirklich nicht beeilen: Mit Anton Tschechow, den ich über Tuberkulose ausfragen würde und über seinen Satz: Prosa schreiben hat zwei Voraussetzungen: einen kalten Blick und Menschenliebe. Mit Carson McCullers, die helfen könnte, diesen merkwürdigen amerikanischen Süden zu verstehen. Mit Isaac Babel, weil ich noch einmal von ihm selbst hören will, dass eine Metapher präzise sein muss wie eine Schublehre und aromatisch wie Dill, und über sein Leben in Odessa… Es gibt leider nicht genügend kaputte Aufzüge für alle die, mit denen ich gerne stecken bliebe.

Michael Lichtwarck-Aschoff









Wohnort: Stadtbergen
Alter: 76 Jahre
Geboren in: Ebenhausen (Isartal)

Beruf: Arzt für Anästhesie und Intensivmedizin am Klinikum Augsburg

Dritter Preis des Schwäbischen Literaturpreises
für die Novelle »Und die Ringe haben geschwiegen«

Welches Buch besitzen Sie mehrmals?
Wahrscheinlich einige, weil ich oft vergesse, wo ich ein Buch hingeräumt habe (wo es bestimmt nicht hingehört), ob wir es schon besitzen (Tante Adelheid hat es uns zweimal geschenkt), ob ich es überhaupt gelesen habe (wahrscheinlich schon) – und so werden einige zusammenkommen, die mehrfach besorgt, geschenkt, ausgeliehen usw. sind.

Von welchem Autor haben Sie die meisten Bücher im Regal?
Ich glaube von Brecht, hauptsächlich deswegen, weil ein Freund einmal bei sich Platz schaffen wollte und den ganzen Brecht rausgeworfen hat. Möglich sind auch andere Gründe.

Gibt es Werke, die Sie in Fremdsprache gelesen haben?
Einige angloamerikanische Autorinnen und Autoren, mit besonderer Begeisterung Jane Austen und Angela Mayou. Ich würde gerne genügend Schwedisch können, um Enqvist oder Tranströmer oder Lars Gustafsson oder Astrid Lindgren in ihrer Sprache lesen zu können, oder überhaupt: Japanisch, oder Spanisch oder und und und … Auch im Lateinunterricht hätte ich lieber besser aufpassen sollen, dann könnte ich heute den Lukrez in seiner Sprache lesen. Den Adolphe von Benjamin Constant konnte ich immerhin in der Originalsprache lesen, damals war unsere gesamte Klasse in unsere Französisch-Referendarin verliebt, das war ein Ansporn.

Wo, wann, wie oft und wie lesen Sie? Haben Sie eine bestimmte Eigenart beim Lesen?
Ich lese immer zu wenig, aber es gibt ja auch zu viele Bücher. (Wobei mir einfällt, dass der ehemalige Chef der Firma BMW, ein gewisser Eberhard von Kuenheim, einmal gesagt hat: »Es gibt viel zu viele Autos auf der Welt – aber viel zu wenige BMWs“« Ein bisschen so ist es auch für Bücher)

Welches Buch sollte jeder gelesen haben?
Von Colson Whitehead: Underground Railroad.

Mein Lieblingsgedicht:
Das 18. Sonett von Shakespeare, das anfängt mit:

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate.
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date….

Und endet:
So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Und das hier aus den Buckower Elegien Brechts:

Das kleine Haus unter Bäumen am See.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.

Welche literarische Figur würden Sie gerne heiraten?
Nur für den Fall, ich wäre nicht schon lang und glücklich verheiratet: Phoebe, Holden Caulfields Schwester im Fänger im Roggen, wenn sie erwachsen ist.

Bei welchem Krimi-Autor (oder welchem Ermittler in der Krimi-Literatur) wären Sie gerne das fiktive Mordopfer?
Bei Dashiell Hammett. (Im Übrigen bin ich ein gefräßiger und wahlloser Leser amerikanischer, schottischer, norwegischer, schwedischer und isländischer Krimis, nur gut dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe und einen Krimi auch dreimal lese, ohne zu merken, dass ich ihn kenne).

Mein Verständnis
von Literatur:

Das ist jetzt ein bisschen peinlich – aber ich habe keine Definition von Literatur. (Für so was müsste man Michael Maar fragen).

Als Leser geht es mir so, dass ich ein Buch möchte, dass mich unterhält, mit dem ich traurig sein kann und fröhlich, das mich aus dem Tag wegnimmt, oder mir die Welt erklärt, mir Fragen stellt, die ich vielleicht gar nicht hatte (das besonders gern). Und wenn das Buch das tut, kommt es in das Regal »gute Literatur«.

Als Schreiber will ich genau die Erwartungen erfüllen, die ich selbst an ein Buch habe – ob das am Ende gute, mittelgute oder überhaupt Literatur ist, entscheiden Leserin und Leser.

Ich schreibe, weil ich es gern tue, weil ich die Zeit dafür habe, weil das Schreiben eine Art Lebensmittel ist. Und wenn dabei Fragen, Fröhlichkeit, Ungeahntes, gerne auch: Literatur herauskommt – um so besser.

– Michael Lichtwarck-Aschoff

Welche literarische Verfilmung / Vertonung / Bühneninszenierung / literarisch-musikalische Begegnung halten Sie für gelungen und hat Sie begeistert?
Bezüglich Film, Theater und so bin ich ein Banause. Aber ich stelle mir vor, dass jemand, der einen Roman schreibt, beim Schreiben an Menschen denkt, die lesen, und mit denen er über seine Absätze diskutiert. Möchte er lieber Zuschauerinnen oder Zuhörer, dann hätte er sich doch für ein Drehbuch anstelle eines Romans entschieden?

Mit Ihrer Begeisterung für welche Autorin, welchen Autor fühlen Sie sich alleine?
Yasushi Inoue. Was eine Zeitfrage sein kann, er muss eine Zeitlang auch in Europa sehr berühmt gewesen sein. Jedenfalls gehört jemand, der eine Erzählung wie Das Jagdgewehr schreiben konnte, in den Kanon der Weltliteratur (falls es sowas gibt).

Welchen Autor werden Sie wohl nie verstehen?
Ich werde rot: James Joyce.

Welches Buch haben Sie immer wieder abgebrochen, es sich aber fest vorgenommen, es endlich ganz zu lesen?
Die Bibel. Leider hat mich meine katholische Dorfkindheit davon abgehalten, dort hineinzuschauen (der Katechismus und der Beichtspiegel waren immer wichtiger) und sie als das zu lesen, was sie ist: eine machtvolle Erzählung. Über das Buch Kohelet hinaus habe ich es nie geschafft. Aber ein Jegliches hat seine Zeit, vielleicht kommt es noch dazu.

Welchen Klassiker lieben Sie?
Wenn ich nur einen auswählen darf, der auf Deutsch geschrieben hat: Kleist.

Gibt es ein Gedicht, ein literarisches Zitat oder eine literarische Szene, welche(s) Sie auswendig können und Ihnen im Alltag immer wieder mal durch den Kopf geht?
»We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep.« Aus dem Sturm von Shakespeare, der, wie allgemein bekannt, nach dem lieben Gott am meisten geschaffen hat.

DER SCHNELL-CHECK mit Michael Lichtwarck-Aschoff:

Marcel Reich-Ranicki, Thea Dorn oder Denis Scheck?
Sigrid Löffler.
Goethe, Schiller oder Hölderlin?Hölderlin.
Comic oder Graphic Novel?
Wenn Sie mir sagen, zu welcher Gattung »Der kleine Nick« von Sempé gehört? Dann den.
Buch, E-Reader oder Hörbuch? Buch.

Bei welcher Malerin oder Musikerin, welchem Maler oder Musiker hätten Sie es spannend gefunden, wenn er/sie Schriftsteller(in) geworden wäre?
Es wird bei jedem künstlerischen Handwerk so ähnlich sein, wie es mit der Schriftstellerei ist: Man schreibt nie das, was man will, sondern immer nur das, was man kann. Also wird es Gründe dafür geben, dass jemand malt und nicht schreibt. Es gibt allerdings einige, die ich dafür bewundere, wie gut sie in zwei Handwerken sind, Carl Mikael Bellmann, zum Beispiel, der ebenso ungeniert geschrieben wie komponiert und wohl auch selbst vorgetragen hat.
Aber wenn ich es noch einmal überlege: Wie Joseph Haydn wohl geschrieben hätte?

Welchen Autor, welche Autorin aus Augsburg und Region schätzen Sie?
Bei all meinen Bildungslücken und mit allem Respekt für Lebende und nicht mehr Lebende: Kann man das überhaupt anders beantworten als mit – Bert Brecht.
(Im Übrigen und leider nicht nur literarisch zeitgemäß: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Brecht)

Welche/r Augsburger/in, der/die kein Schriftsteller ist, sollte einmal ein Buch oder einen Gedichtband schreiben? Wie sollte der Titel des Werks sein?
Ich würde gerne lesen: Die Novelle: Als mir die Ohrenbeichte per Telephon abgenommen wurde. Erzählt von der Haushälterin des ehemaligen Augsburger Bischofs Mixa.

Was würden Sie Bert Brecht fragen, wenn er heute an Ihrer Haustüre klingelt?
Keine Ahnung, ich bin hoffnungslos schlagunfertig. Mir würde wahrscheinlich nur einfallen ihn zu fragen, ob er eine gute Reise hatte.

Was vermissen Sie in Augsburg als Literatur- und Buchfreund?
Gar nichts.
(Was möglicherweise damit zusammenhängt, dass ich kein Augsburger bin, allerdings auch kein ordentlicher Stadtberger und meine Heimat am ehesten in einem ganz kindlichen Sinn meine Sprache ist. Was die »Region«, »die Heimat« betrifft, die ja einiges Wunderbare einschließt aber gleichzeitig auch viel zu viel ausschließt, geht es mir damit ähnlich wie Isaiah Berlin mit der größeren Gemeinschaft der Nation: »Eine Nation wird von Menschen gebildet, die sich in einem gemeinsamen Irrtum über ihre Herkunft befinden.« )

Fragen: Martin Schmidt | auxlitera

Michael Lichtwarck-Aschoff | Bibliografie – belletristische Veröffentlichungen:

Hoffnung ist das Ding mit Federn. Erzählungen. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2016
Als die Giraffe noch Liebhaber hatte. Erzählungen. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2017
Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist. Verlag Klöpfer und Meyer, Tübingen 2019
Robert Kochs Affe. Hirzl Verlag, 2021


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