Macht und Grenzen der ยปDiplomatenpรคpsteยซ: Der Augsburger Kirchenhistoriker Prof. DDr. Jรถrg Ernesti untersucht in seiner Monographie die Auรenpolitik des Vatikans als Friedensmacht. Das Buch ist die erste Gesamtschau auf 150 Jahre pรคpstliche Auรenpolitik.
Forschungsimpuls aus der Friedensstadt Augsburg: In seinem jรผngst beim Herder Verlag erschienen Monographie Friedensmacht. Die Vatikanische Auรenpolitik seit 1870 weist der Augsburger Kirchenhistoriker Prof. DDr. Jรถrg Ernesti (Universitรคt Augsburg) auf einen Umstand hin, der in der Forschung bisher noch kaum untersucht wurde: Fast alle Pรคpste im Zeitraum zwischen 1878 und 1978 hatten eine diplomatische Ausbildung und wirkten vor ihrer Wahl als Diplomaten oder Mitarbeiter der pรคpstlichen Auรenpolitik. Die katholische Kirche wurde also ein Jahrhundert lang von politisch-diplomatisch versierten Mรคnnern geleitet. Diese Prรคgung sollte nicht ohne Einfluss auf die Ausrichtung des Heiligen Stuhls bleiben.
ยปMan kรถnnte also durchaus von einem Zeitalter der Diplomatenpรคpste sprechenยซ, so fasst Jรถrg Ernesti, Professor fรผr Mittlere und Neue Kirchengeschichte und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultรคt der Universitรคt Augsburg, diesen Aspekt seiner Forschung zusammen. In seiner Monographie zeigt er auf, dass das Jahr 1870 eine Zรคsur darstellt, insofern es seither zu einer Neuumschreibung des pรคpstlichen Rollenbildes kam. Nach dem Verlust der territorialen Herrschaft suchten sich die Pรคpste schon bald als Vermittler in internationalen Konflikten zu profilieren. Die entscheidenden Schwerpunkte dieser neuen Politik wurden bereits wรคhrend des Ersten Weltkriegs ausgebildet. So verurteilte Benedikt XV. zwar diesen Krieg mit scharfen Worten und lieร keine Rechtfertigung gelten, ihn zu fรผhren. Doch wahrte er ansonsten eine strikte รberparteilichkeit, um die humanitรคren Interventionen des Heiligen Stuhls nicht zu gefรคhrden und die Mรถglichkeit einer Friedensvermittlung offenzuhalten. Das sollte in allen kriegerischen Konflikten des 20. und 21. Jahrhunderts so bleiben.
Humanitรคre Aktivitรคten (wie zum Beispiel ein Vermisstensuchdienst) waren im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit Einschrรคnkungen mรถglich, nicht aber eine echte Friedensvermittlung. ยปAls Hemmschuh fรผr das auรenpolitische Standing des Vatikans sollte sich nach 1945 eine theologische Prรคmisse erweisen: Die Pรคpste hatten seit der Franzรถsischen Revolution immer wieder die Religionsfreiheit sowie die Trennung von Staat und Kirche verurteiltยซ, so Ernesti. Erst nach einer lรคngst รผberfรคlligen Korrektur dieser Position in den sechziger Jahren sei eine Mitarbeit des Heiligen Stuhls bei der UNO und ihren Sonderorganisationen, beim Europarat und der OSZE mรถglich gewesen. In den letzten 40 Jahren stieg auch die Zahl der diplomatischen Vertretungen im Vatikan auf heute 184 Staaten an. Neben die klassische Friedensvermittlung trat nun der Einsatz fรผr Menschenrechte, globale Entwicklungschancen, Flรผchtlinge und Umweltschutz.
ยปDiplomatenpรคpsteยซ
All diese Entwicklungen wurden von den ยปDiplomatenpรคpstenยซ, so der Begriff von Jรถrg Ernesti, der letzten 150 Jahre stark vorangetrieben. ยปBeim Begriff โบDiplomatenpapstโน mag manchen Beobachter ein gewisses Unbehagen รผberkommen. Denn Auรenpolitik, Diplomatie, Einsatz fรผr Menschenrechte und Vermittlung in internationalen Konflikten sind ja nicht die primรคre Aufgabe des Papstes โ ist dieser doch in erster Linie Leiter der Gesamtkirche und ihr oberster theologischer Lehrerยซ, fรผhrt der Kirchenhistoriker weiter aus und formuliert: ยปIm Evangelium steht nichts von Friedensdiplomatie, wohl aber die Weisung Christi: โบDarum gehet hin und lehret alle Vรถlkerโฆโนยซ

Dennoch gehรถrt das auรenpolitische Engagement heute zum Rollenbild eines jeden Papstes, zwar nicht als zentrales, aber doch als ein wichtiges Element. In der Politikwissenschaft ist die Auรenpolitik des Heiligen Stuhls als Soft Power beschrieben worden. Soft Power basiert im Unterschied zu Hard Power nicht auf wirtschaftlichem Gewicht oder militรคrischer Stรคrke, sondern auf Glaubwรผrdigkeit und moralischer รberzeugungskraft. ยปWenn den Pรคpsten diese Autoritรคt zugestanden wird, kรถnnen sie wirksam in Konflikten vermitteln und sich fรผr humanitรคre Belange einsetzen โ aber eben nur dann.ยซ
Franziskus, Putin und Kyrill
Stehen nun der 1978 zum Papst gewรคhlte Johannes Paul II und der aktuelle Papst Franziskus in der Tradition der ยปDiplomatenpรคpsteยซ oder verkรถrpern sie einen anderen Typus? Prof. DDr. Jรถrg Ernesti erklรคrt: ยปMit dem polnischen Papst assoziiert man gewiss nicht sogleich die Diplomatie, sondern man denkt eher an seine kompromisslose Haltung gegenรผber dem kommunistischen Regime in Polen.ยซ Dennoch fiel in seinen Pontifikat auch die Vermeidung eines Krieges zwischen Argentinien und Chile im Jahr 1980 durch einen pรคpstlichen Schiedsspruch โ ยปein diplomatisches Meisterstรผckยซ.
Vor dem Dritten Golfkrieg tat der Papst zwar alles, um diesen zu verhindern, doch blieben Gesprรคche mit den Regierungschefs der damaligen ยปKoalition der Willigenยซ ergebnislos. ยปรhnlich verhรคlt es sich mit Papst Franziskus, der als unkonventioneller, ja, vielleicht als revolutionรคrer Geist erlebt wird, der eine offene und undiplomatische Sprache sprichtยซ, beschreibt Ernesti den aktuellen Papst: ยปDennoch zeigen seine Interventionen im Ukrainekrieg, dass er auf dem Boden einer langen diplomatischen Tradition agiert. Dazu gehรถren die strikte รberparteilichkeit und der Verzicht darauf, den Aggressor zu verurteilen (eine zuletzt nicht unumstrittene Haltung!); dazu zรคhlen diplomatische Bemรผhungen um humanitรคre Korridore; und dazu zรคhlt schlieรlich der Versuch, Einfluss auf den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill zu nehmen, der als ein wichtiger Unterstรผtzer des russischen Prรคsidenten Putin gilt. Wie jetzt deutlich wird, ist Franziskus sicherlich mehr Diplomat, als viele Zeitgenossen das erwartet hรคtten. Das Zeitalter der Diplomatenpรคpste endet nicht im Jahr 1978, sondern es wird bis in die Gegenwart fortgeschrieben.ยซ [pm | auxlit]
Jรถrg Ernesti: Studium in Paderborn, Wien und Rom, 1993 Priesterweihe, 1997 Promotion in Kirchengeschichte in Rom und 2007 in รkumenischer Theologie in Paderborn, 2003 Habilitation in Mainz, seit 2013 Professor fรผr Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universitรคt Augsburg.
Jรถrg Ernesti: Friedensmacht. Die vatikanische Auรenpolitik seit 1870.
Gebunden mit Schutzumschlag und Leseband, 368 Seiten
Verlag Herder 2022
ISBN: 978-3-451-39199-6